Dienstag, 18. November 2014

Eine Erinnerung

Ich war 8 Jahre alt. Aufgeschrieben habe ich diese Erinnerung mit 17.

Es war abends, es gab Abendbrot mit Brötchen, weißen Brötchen. Ich hatte wieder ein komisches Gefühl im Bauch. Mama gab mir eine Oberhälfte eines Brötchens und machte selbst weiter. Weil ich nichts tat, fragte sie, was los sei. Wie jedes Mal sagte ich mit stiller, erstickender Stimme: "Ich habe keinen Hunger." Gereizt sagte sie: "Es wird ein halbes Brötchen gegessen. Was soll drauf?" Ich sagte nichts, worauf sie einfach Nutella draufmachte. Später dachte ich, Salami wäre besser gewesen. Ich machte keine Anstalten, es zu essen. Ich weinte, worauf meine Mutter die Geduld verlor, die Hälfte nahm, mich am Kiefer packte und es mir mit den Worten "Friss endlich dein Brötchen!" gewaltsam in den Mund zwängte. Ich weinte und schrie leise und jämmerlich. Sie ohrfeigte mich mehrmals, schrie mich an, ich solle endlich kauen und runterschlucken. Hart packte sie mich am Oberarm, zog mich vom Stuhl und brachte mich ins Bad. Dabei beschimpfte sie mich lautstark und riss an meinem Arm. Im Bad schrie sie: "Ausziehe, zieh dich sofort aus! Und schluck endlich runter!" Wieder ohrfeigte sie mich. Schnell zog ich meine Sachen aus und sie zog mich am Oberarm in die Dusche. Sie stellte das Wasser an und hielt mir den Duschkopf über den Kopf. Das Wasser war eiskalt, doch das war ihr, wie sie sagte, scheißegal. Sie nahm Shampoo und schrie: "Komm her!" Schmerzhaft schäumte sie mir die Haare ein. Das Shampoo brannte in den Augen, weshalb ich sie mir rieb und noch mehr weinte. "Hör auf zu flen', bist du selber Schuld!" Wieder hielt sie mir den Duschkopf über den Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und verschluckte mich am Wasser, das Brötchen war mittlerweile weg. Wieder schrie sie mich an, ich solle mich nicht so anstellen. Als das Shampoo ausgewaschen war, wrang sie mir schmerzend die Haare aus und zog mich aus der Dusche, wieder am Oberarm. Nackt und nass schleifte sie mich durch die Wohnung in mein Zimmer und öffnete die Balkontür. Irgendetwas Schlimmes sagte sie noch zu mir und drängte mich auf den Balkon, danach schloss sie die Tür, verließ mein Zimmer und machte dort das Licht aus und die Tür zu. So stand ich draußen, in Dunkelheit und Kälte und weinte. Es ging mir sehr schlecht, wie jedes Mal kam ich mir so tief hilflos vor. Ich guckte durch das Fenster auf dem Balkon in das Zimmer meines kleinen Bruders. Durch das Schlüsselloch fiel Licht und ab und zu huschten Schatten vorbei. In diesem Moment kam mir das Schlüsselloch wie eine große Welt vor. Es war alles, was ich sah. Später, als ich endlich erschöpft im Bett lag, taten mir einige Stellen am Kopf weh. Sie hatte mich mit dem Duschkopf mehrmals hart erwischt. Am Hals hatte ich einen langen roten Strich, ein Ratscher von ihrem Fingernagel, er war rechts und verlief von hinten oben schräg rüber nach unten. Mein Bett war so warm, leise schluchzte ich und drückte mein Kuscheltier, ein Eichhörnchen, an mich. Ich war so kaputt und bettelte in Gedanken Papa an, das er mich doch bitte holen solle. Aber ich wusste, das dass niemals passieren würde, doch davon wollte ich nichts wissen. Ich wollte nur träumen, einfach nur träumen. Das war etwas, was mir meine Mutter nie verbieten konnte. Ich konnte nicht einschlafen, ich hatte einfach Angst.

Ich hatte sehr große Angst davor, das meine Mutter später nochmals wegen dieser Sache mich bestrafen würde. Ich fühlte mich sicher in meinem Bett, doch war ich dort auch auf eine Art und Weise gefangen, denn sobald ich das Bett verlassen musste, war ich meiner Mutter wieder ausgesetzt. Als später, nachdem schon lange Ruhe in der Wohnung und im gesamten Block herrschte, meine Zimmertür aufging und meine Mutter mit einem Kerzenglas reinkam, blieb mein Herz kurz stehen. Mir wurde schlecht, die Angst kroch mir den Hals rauf und ich rechnete mit allem. Meine Mutter entschuldigte sich bei mir, sie weinte und legte sich dann zu mir ins Bett, die Kerze blieb auf der Holzkiste stehen, die ich als Nachttisch benutzte. Da lag sie dann hinter mir, hatte einen Arm um mich gelegt und schlief irgendwann ein. Die Kerze flackerte. Mein Herz ebenfalls. Mein ganzer Körper war angespannt, ich starrte auf die Kerze und horchte in die Nacht hinein, jederzeit bereit um mit allem zu rechnen. Plötzlich war mein Bett nicht mehr sicher, ich hatte das Gefühl vollkommen ausgeliefert zu sein. Ich hatte noch größere Angst einzuschlafen, denn sie lag neben mir. Ich sehnte mich stets nach mütterlicher Zuneigung, einfach Geborgenheit, doch diese Nähe meiner Mutter war mir furchtbar unangenehm. Es verwirrte mich als Kind, ich verstand nicht, warum ich mich so schrecklich unwohl in ihrer körperlichen Nähe fühlte, denn ich wünschte mir so sehr eine liebe Mutter.

Heute, viele Jahre später, denke ich, das ich ständig in der Verteidigungsstellung war, ich habe ständig damit gerechnet, das im nächsten Moment etwas passieren könnte, wirkliches Vertrauen in andere Personen zu haben fällt mir auch heute noch sehr schwer.
Selbst wenn mein Kopf sagt, das mein Freund mir garantiert nichts tut und ich nicht schuld daran bin, wenn er sich wegen irgendwelchen Dingen aufregt, die ihm nicht gelingen, wechsle ich unbewusst in meine Starre, in der ich keinen Mucks von mir gebe, auf jedes noch so kleine Geräusch höre und ganz leise anfange aufzuräumen. Ein Reflex, denn wenn meine Mutter sauer war, dann war es für mich sehr wichtig, sie nicht noch mehr zu reizen und meine liebsten Sachen in Sicherheit zu bringen.
Es macht mir Angst, wenn Menschen in Wut schreien, andere Menschen anschreien.Warum machen sie das? Fragt sich keiner in diesem Moment, wie sich das Gegenüber fühlt? Wie man selber wirkt?
Schreiende Menschen sind nicht vertrauenserweckend. Bei mir wecken sie nur eines: Vorsicht.