Montag, 2. März 2015

Mein liebster Bruder

Wir wussten alle, das dieser Tag kommen würde. Es war uns immer bewusst, das mein großer Bruder eine geringere Lebenserwartung hat, als ein gesunder Mensch. Erst hieß es, er wird keine 10, keine 12, keine 16, ab 18 keine Lebensgarantie mehr.
Mein lieber, großer Bruder.
Thomas war immer ein Kämpfer. Hingegen allen Vermutungen der Ärzte zum Trotz, erreichte er so unglaublich viel und dabei schätze er das Leben so sehr, wie es die wenigsten Menschen überhaupt jemals tun.
Mein großer Bruder, meine kleine Familie, meine Welt, du warst immer meine Bezugsperson. Niemand war mir im Leben so wichtig, wie du es warst. Du hast mir so viel beigebracht, wir haben so viel zusammen erlebt. Egal wie dunkel meine Welt war, wenn du da warst, konnte ich alles ertragen. Für dich konnte ich alles ertragen.
Mein großer Bruder starb am 4. Februar, vor 26 Tagen. Und ein Teil von mir starb mit ihm.
Es gab doch nie ein Leben ohne ihn, er war immer da. Egal wie schlecht es mir ging, er hat mir immer weiter helfen können, egal wie schwierig eine Situation war, er gab mir immer eine Wegweisung an.
Nun bin ich allein.
Es ist der schwierigste Moment in meinem Leben, ich wusste das er kommen würde, aber das macht es nicht leichter. Ich bin gerüstet, mit Schwert und Schild, durch dich, doch der Moment dauert an. Und er wird es auch noch sehr sehr lange.
Das Schwert von dir, das mir sagt, ich soll nicht weinen, ich soll kämpfen, ich soll weiterleben.
Das Schild von dir, das mir zeigt, wie stolz du auf mich bist, weil ich alles so umsetze, wie du es dir wünschst.

Niisan, großer Bruder, immer wieder sage ich dieses Wort in Gedanken, in der Hoffnung, dich zu hören, wie du Neechan zu mir sagst, zu deiner kleinen Schwester. Niemand wird mich mehr so ansprechen. Und ich werde niemanden mehr mit Niisan ansprechen. Es waren unsere Namen, die wir uns gegenseitig gaben.
Es tut so unendlich weh, zu wissen, das ich dich nie wieder sehen oder hören werde. Wir können nicht mehr zusammen rumalbern, lachen, zusammen über etwas aufregen oder uns zanken, nie wieder Vertragen, ganz ohne Entschuldigung. Nie wieder blind verstehen. Obwohl das nicht ganz stimmt. Ich weiß, was du von mir erwartest, auch jetzt sind deine Gedanken und dein Wesen immer bei mir, doch kann dieses Wissen die Lücke nicht füllen, die in meinem Herzen entstanden ist.

Es war ein Mittwoch. Es war kalt, ein grauer Tag, hier bei uns im Norden. Wir fuhren zu deiner Wohnung, wo unsere Mutter auf uns wartete. Mein Freund hatte mir nichts gesagt, aber er wusste es bereits. Ich wollte nicht mit ihr in deine Wohnung, ich war nicht bereit, mit ihr zu reden, weil da diese unendlich großen, unbesprochenen Dinge zwischen uns lagen.
Doch wir gingen alle drei in deine kleine Wohnung. Ich saß auf deinem Sofa, dein Traumsofa, mit dem du so zufrieden warst, nachdem du so viele Probegesessen und es gefunden hattest. Sie fing an zu erzählen. Sie sagte, sie wüsste nicht, wie sie es mir sagen soll. Ich habe sie noch nie so aufgelöst gesehen. Sie sah aus, als wenn ihr Leben in Trümmern läge und ich wunderte mich, denn an mir und den Problemen zwischen uns konnte das nicht liegen. Sie begann von dir zu erzählen. Die Entzündung im Port wurde schlimmer. In Westerstede haben sie dir nicht das Antibiotikum gegeben, was die Hamburger Uniklinik empfohlen hatte, dabei kannten sie sich besser mit dir aus. Sie schickten dich nach drei Tagen wieder heim, wo du selber noch Infusion weiter gemacht hast. Von da hast du mir zwei letzte Fotos von dir geschickt, am 27. Januar. Am darauf folgenden Sonntag ging es dir so schlecht, das sie dich nach Bremen ins Krankenhaus gebracht hat. Sie gaben dir sofort das richtige Antibiotikum, aber sie wollten den Port nicht direkt rausholen. Das Antibiotikum schlug nicht mehr an. Sie weinte noch mehr und schluchzte, als sie sagte, das sie dich in der Nacht zu Mittwoch in den OP schoben, um in einer Notoperation den Port zu entfernen. Niisan, dachte ich in meinem Kopf, Niisan, liegst du im Koma? Geht es dir so schlecht, das dir keine Zeit mehr bleibt?
'Er ist nicht wieder aufgewacht..'
In diesem Moment spürte ich einen Ruck durch mich gehen, ich sprang halb vom Sofa auf, ich krallte mich an meinen Freund fest, ich wollte weg von diesem Satz, von diesem Zustand, den ich nicht wollte. Ich schrie. Immer wieder. Und ich weinte. Eine ewige Zeit, während ich in meinem Herzen spürte, wie ein Teil in mir starb.


Am nächsten Tag fiel Schnee vom Himmel. Auch am darauf folgenden Tag. Es war kalt, es schneite, nachmittags schien kurz die Sonne. Eigentlich ein paar schöne, ruhige Februartage. Zu idyllisch für mich. Es kann draußen noch so schön aussehen, wenn in mir alles dunkel, kalt und tot ist.

Am 27. Januar haben wir das letzte Mal geschrieben. Du warst froh, wieder zuhaus in deiner kleinen Bude zu sein.

'Infusion @ home 8)', das hattest du geschrieben...


...und setztest das Foto bearbeitet noch mal nach, womit du mich mal wieder zum Lachen brachtest.

Ich fragte: Niisaaaaaaan
Wann kommst du denn mal wieder her?

Deine Antwort, deine letzten Worte:
Das weiß nur der Wind

Mein liebster großer Bruder, Thomas.
✩ 19. April 1987
✝ 4. Februar 2015

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