Dienstag, 12. August 2014

kleine Welt

Mein Umfeld war nie wirklich beständig. Oft zogen wir um, ich wechselte von einer Schule zur anderen, hier und da längere Krankenhausaufenthalte meines Bruders. Mal war ich mit im Krankenhaus, mal kam ich bei Bekannten unter.
Ich kann an meinen Händen nicht abzählen, wie oft ich die Schule wechselte, für die Anzahl der Wohnortwechsel brauche ich zusätzlich noch meine Zehen. Umziehen fällt mir leicht, ich weiß sehr gut wie ich was verpacke. Jedoch wusste ich nie, wie man auf andere Kinder zugeht. Ich hatte nie wirklich Freunde als Kind, ich war ja nie lange genug an einem Ort dafür. Ich war eher die komische Außenseiterin, die nicht dazu passte und aufgrund dessen nie akzeptiert wurde. Ich war ein ängstliches, zurückhaltendes Kind, ständig hatte ich Angst, das mir etwas passiert.
Bei einer Schule rannte ich immer so schnell es ging nach Hause, damit mich die anderen Kinder der Nachbarschaft nicht erwischten. Sie schubsten mich rum, nahmen mir meine Tasche weg, ich hatte Angst vor ihnen. Einmal kletterte ich über einen Drahtzaun, wobei die gute rote Jeanshose ein großes Loch am Knie bekam. Ich landete im Garten der Vermieterin, die unter uns wohnte, ich huschte schnell an der Hausmauer entlang zur Haustür, damit sie mich nicht sah. Der Garten war verboten für uns. Auf dem Weg nach oben bemerkte ich das Loch in der Hose. Gezittert hatte ich sowieso schon vor Angst wegen den Kindern, nun kamen mir die Tränen und mir wurde erst recht schlecht bei dem Gedanken, was meine Mutter zu der Hose sagen würde.
Sie war sehr sauer. Kannst du nicht aufpassen auf deine Sachen, hatte sie mich angemeckert, schließlich kostet so eine Hose viel Geld. Ich weinte und versuchte zu erklären, das ich über den Zaun klettern musste wegen den Kindern, aber das war uninteressant für sie. Wenn du dich wehren würdest, hättest du das Problem nicht, das ist deine eigene Schuld und in dem Garten hast du nichts zu suchen! Wie oft willst du denn da rüber klettern? Bis der Zaun kaputt gebogen ist? Wer soll das bezahlen?
Ich erwiderte nichts mehr und ließ das Donnerwetter über mich ergehen. Mir war jederzeit bewusst das meine Mutter mir mit diesem Problem nicht helfen würde, ihrer Meinung nach musste ich da selber durch, wenn die Nachbarskinder mich malträtierten, ich sei dafür mit 6/7 Jahren alt genug.
Der Vorteil an dem ständigen Umziehen war definitiv, das ich nach spätestens 7 Monaten woanders wohnte und zur Schule ging und so einigen unliebbaren Kindern entging. Aber Freunde fand ich so natürlich nicht. Ich war eh oft mit im Krankenhaus oder meine Mutter beschloss so, das ich zuhause blieb, ich fehlte viel in der Schule. Meine kleine Welt bestand aus mir selbst, meinen wenigen liebsten Spielzeugen und meiner Fantasie im Kopf, das wars. Ich konnte mich stundenlang mit einem Spielzeug beschäftigen, ohne einen Mucks von mir zu geben, ich brauchte keinen Mitspieler. Irgendwo rumsitzen und Löcher in die Luft starren, das tat ich auch sehr gerne, Tagträume waren meine Welt. Dort war es immer schön, es ging mir gut, ich war nie allein und erlebte tolle Dinge. Ich versuchte bald nicht mehr wirklich ernsthaft Anschluss an Gleichaltrige zu finden, es war zu aufwendig und hielt ja doch nicht lange, denn der nächste Umzug kam bestimmt. Oder wieder eine längere Abwesenheit meinerseits, weil ich mit im Krankenhaus war.
Wenn ich meinen Bruder und meine Mutter ins Krankenhaus begleitete, hatten meine Mutter und ich ein kleines Zimmer im Elternhaus der Uniklinik. Dort verbrachte ich sehr viel Zeit alleine. Auf die Station meines Bruders durfte ich nicht, denn ich war noch keine 12 Jahre alt und das war eine Bedingung, da diese Station besonders schwerkranke Kinder beherbergte. Dadurch, das sie sich aber im Erdgeschoss befand, konnte ich aber über die Terrasse in das Zimmer meines Bruders und das war auch erlaubt. Jedoch saß ich da meistens rum und langweilte mich. Ich sah meinem Bruder beim spielen zu, er hatte einen N64 bekommen, damit ihm nicht so langweilig wurde. Er besaß auch den neuesten Gameboy und eine gute Hand voll Spiele. Ich hatte noch meinen ersten Gameboy, den grauen, mit Tetris, außerdem hatte ich noch Kirby's Dreamland. Tetris spielte ich wirklich gerne, aber jeden Tag, von morgens bis abends? Nein, das war alleine deswegen schon undenkbar, weil meine Mutter mir niemals so viele Batterien für den Gameboy gekauft hätte, sie würden ja ständig leer sein. Aber ich hätte eh nicht so viel und lange spielen wollen. Wenn ich nicht durch die große Uniklinik spazierte und jeden Winkel erkundete, dann war ich draußen unterwegs um die Klinik herum, im Klinikpark, auf der großen Wiese neben dem Elternhaus oder bei dem Helikopter-Landeplatz. Hier lernte ich den Unterschied zwischen Hubschrauber und Helikopter. Darauf war ich sehr stolz, denn es war etwas, was ich für mich selber erkannte. Wenn ich alleine im Elternhaus war, dann spielte ich dort in dem übergroßen Spielzimmer, das fast jede Art von Spielzeug hatte. Eine ganze Spielecke, ein Spielhaus zum reingehen und raufklettern, Puppen mit Puppenhaus, Holzeisenbahn, und und und... Aber meist wurde mir schnell langweilig dadrin, ich war ja alleine, kein anderer war im Haus. Manchmal saß ich dann in dem so genannten Jugendzimmer, dort war ein Keyboard, jede Menge große Sitzsäcke, ein Fernseher mit Recorder und einem N64. Auch Kassetten gab es genug. Ich guckte mich durch alle Filme, ich spielte am Nintendo, testete am Keyboard rum und baute mir einen Turm aus den Sitzsäcken. Irgendwann wurde aber auch das langweilig. Im Vorraum des Elternhauses gab es einen Tischkicker und einen Billiardtisch. Nach nur kurzen Spielrunden mit mir selbst suchte ich mir wieder etwas neues. Es gab kleine Fahrzeuge im Elternhaus, Roller, Dreiräder, kleine Fahrräder. Mit diesen durfte man durch das ganze Haus fahren. Das Elternhaus hatte ein Erdgeschoss und einen ersten Stock, sehr lange Flure und einen Fahrstuhl. Ich fuhr so viele Runden in diesem Haus hin und her, mal mit dem einen, mal mit dem anderen Fahrzeug. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, wann es für mich an der Zeit war rüber zu meinem Bruder und meiner Mutter zu gehen für das Mittagessen. Wenn es draußen trocken und warm war, spielte ich im Garten des Elternhauses. Dort gab es größere Fahrzeuge wie Kettcars, eine tolle Rutsche und einen riesigen Sandkasten. Meist war ich den ganzen Tag irgendwo am rumstromern, alleine, im Kopf am träumen. Selten war mal andere Eltern da, die Betreuer des Elternhauses waren nur an zwei Nachmittagen der Woche zugegen. Irgendwie war ich auch ganz zufrieden damit das ich nie auf Fremde traf, Fremde waren mir nicht geheuer. Einmal jedoch wünschte ich mir, das ganze Haus wäre voll von ihnen. An diesem Tag ging ich, wie an vielen anderen Tagen, unten auf die Kindertoilette. der Türgriff war extra etwas niedriger angebracht und ich fand das toll, schließlich war ich sehr klein für mein Alter. Diesesmal jedoch ließ sich das Drehschloss nicht öffnen. Ich drehte und drehte, aber die Tür blieb verschlossen. Ich fing an zu weinen, ich rüttelte, drückte, drehte hin und her, zog an der Klinke, aber es passierte nichts. Ich bekam große Angst, denn der Raum war in sich geschlossen, es war keine Kabine und es gab kein Fenster. Das Licht leuchtete gelblich-warm, wie im Keller meiner Oma und wie in einem Keller eingesperrt fühlte ich mich auch. Ich wusste ganz genau, das heute kein Betreuer da war, es waren außer meiner Mutter und mir nur zwei andere Zimmer belegt und es war grade früher Nachmittag, meine Mutter würde sich also nicht wundern, wenn ich mich nicht melde, denn das tat ich ja ohnehin nicht. Manchmal war ich zum Abendbrot drüben, manchmal nicht. Ihr meine Lage erst auffallen, wenn sie abends zurück kam und das konnte gut gegen 8 oder 9 Uhr sein. So viele Stunden eingesperrt, das machte mir Angst, ich weinte immer lauter und rief schließlich um Hilfe. Ich polterte und klopfte gegen die Tür, in der Hoffnung das irgendwer im Hause war und mich hört. Der Lüfter in der Toilette war sehr laut, ich bezweifelte das man mich richtig hören konnte. Irgendwann waren meine Hände taub vom Trommeln gegen die Tür. Wie lange ich eingeschlossen war, weiß ich nicht mehr, für mich war es eine Ewigkeit, bis endlich eine Frau auf der anderen Seite der Tür war und mir half. Sie beruhigte mich und wies mich an das Schloss immer wieder in eine Richtung zu drehen. Irgendwann ging diese Tür endlich auf ich war so ängstlich, das ich ihr in die Arme fiel, obwohl sie für mich völlig fremd war, ich hatte sie nie zuvor gesehen und sah sie auch später nie wieder. Sie tröstete mich und ich war so froh wieder die Sonne zu sehen.
Nach diesem Schrecken lag ich fast den ganzen Nachmittag in meinem Bett und weinte, weil die Angst noch in meinem Knochen saß. Und ich war verwirrt, innerlich vom Gefühl aufgewühlt. Diese Frau hatte mich umarmt, mich getröstet und beruhigt, sie schimpfte nicht mit mir. Sie war einfach nur für mich da. Die Erkenntnis, die kam, tat weh. Meine Mutter war nicht so. Obwohl ich in diesem Moment so fertig war, fühlte sich der Moment so angenehm ruhig und sicher an. Wie rosa Sonnenstrahlen dachte ich mir damals. Bei dem Gedanken an meiner Mutter verschwand alles in dunkelgrünen und schwarzen Wolken. Ich würde ihr nicht erzählen was passiert war. Sie würde bestimmt böse sein, das ich solch einen Lärm veranstaltet und die Tür wegen mir ein paar Beulen dank meiner Tritte bekommen hatte. Und schließlich wäre es meine Schuld, meine Dummheit, das all das passiert ist. Auf die Kindertoilette ging ich jedenfalls nie wieder.
Wir waren immer wieder dort, mehrere Wochen, manchmal Monate am Stück. In dieser Zeit hatte ich ein bisschen Unterricht zusammen mit zwei-drei anderen Kindern im Klinikum, sowie mein Bruder. Jedoch war es sehr wenig, vielleicht 5 Stunden die Woche. Wie mein Bruder waren die anderen Kinder Patienten der Station.
In dieser Zeit lernten wir eine andere Patientin und ihre Mutter kennen. Sie war im gleichen Alter wie mein Bruder und die beiden wurden gute Freunde, wann immer sie zeitgleich im Klinikum waren, wollten sie sich zusammen ein Zimmer teilen. Es war für sie entspannender, weil beide die selben Interessen hatten und nicht ständig ein kleines quängelndes Kind neben ihnen im Bett lag, das erst recht keine frische Luft reinlassen wollte. Unsere Mutter und ihre verstanden sich gut. Beide saßen nun abends immer zusammen, sie redeten, rauchten mal eine Zigarette oder sie machten meinem Bruder und dem Mädchen Essen auf Wunsch, das Essen vom Klinikum war nicht prickelnd. Einmal kochten sie griechisch. Da Mutter und Tochter griechische Wurzeln hatten, war die Dame besonders gut darin und mein Bruder liebt griechisches Essen ebenfalls. Sie stellten eine bunte Mischung im Elternhaus zusammen und trugen das Essen, in Schalen gepackt, mit einem lavendelfarbenen Wäschekorb rüber. Sie freuten sich sehr.
Manchmal kam es vor, das ich bei Bekannten bleiben musste. Anfangs war es eine Bekannte meiner Mutter, zu der sie damals mit meinem Bruder und mir von meinem Vater abgehauen war. Ich war nicht sehr gerne dort. Sie und ihr Mann waren starke Raucher, auch im Haus. Die Wohnung war so verdreckt und unordentlich, alles müffelte. Sie hatte Söhne, einige, wie viele weiß ich nicht mehr, aber es waren definitiv mehr als 4. Sie waren alles andere als erzogen, die älteren von ihnen rauchten ebenfalls schon, wobei sie noch keine 15 Jahre alt waren. Ich ekelte mich vor diesem gesamten Haushalt und war so froh, wenn ich vormittags über in der Schule war und nachmittags raus konnte. Selbst bei Nieselregen blieb ich lieber draußen, nur starker Regen jagte mich ins Haus, obwohl ich es als Kind hasste im Regen zu spielen. Meist spielte ich alleine draußen, zu der Zeit gab es viele Baustellen in der unmittelbaren Nähe, ich kletterte auf Hügel rauf, die aus Erde, Schotter oder Steinschutt bestanden. Selten lief mir einer der Jungs über den Weg, sie waren nur draußen, wenn sie mussten.
Als meine Mutter nicht mehr auf sie angewiesen war, kappte sie den Kontakt. Sie hatte nun neue Freunde, die besser waren. Für ein paar Wochen kam ich bei einer Familie unter, die wir in der Mutter-Kind-Kur kennen lernten. Sie hatten eine Tochter im selben Alter und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich so etwas wie eine Freundin. Bei ihnen fühlte ich mich wohl, am liebsten wäre ich bei ihnen geblieben. Die Atmosphäre in dieser Familie war so friedlich, das war mir so unbekannt. Morgens machte der Vater die Schulbrote für seine Tochter und für mich. Das waren drei fremde Dinge für mich. Ich musste immer mein Brot selber schmieren, der Mann meiner Mutter tat nichts im Haushalt und das es auch noch freiwillig, ja sogar gerne gemacht wurde, war suspekt für mich. Auch wenn wir später immer wieder mal zu Besuch da waren, fühlte ich mich sofort wohl. Leider kappte meine Mutter auch diese Freundschaft nach nur wenigen Jahren, obwohl sie nur einen Ort weiter wohnten.
Ein paar Mal war ich in verschiedenen Einrichtungen unter gebracht. Ein hin und her, meine kleine Welt im Gepäck.
Als ich alt genug war um alleine zuhause zu bleiben, blieb ich meist auch zuhaus. So konnte ich zu Schule gehen, den Haushalt machen und meinen kleinen Bruder versorgen, wenn er von der Schule kam. Mein kleiner Bruder, Halbbruder. Sein Vater tat so gut wie nichts im Haushalt, außer Regeln aufstellen.
Meine Welt wurde um Pflichten erweitert. Schließlich bin ich die Große und kann mit anpacken. Essen machen für den kleinen Bruder und mich, Wäsche machen, aufräumen, bei Hausaufgaben helfen. Meine Mutter hatte mir schon früh beigebracht, wie man Wäsche wäscht und aufhängt, zusammen legt, wie man sauber macht und Essen macht. Wirkliches Kochen konnte ich nicht, es waren Fertigsachen die sie mir beibrachte, simple Dinge, die eine Zwölfjährige hinbekommt.
Inzwischen hatte ich zwar eine Freundin, nur hatte ich wenig Zeit für Freundschaften. Vieles zuhause war meine Aufgabe, im Sommer saß ich stundenlang auf der großen langen Hofeinfahrt und zupfte Unkraut. Das was an Freizeit blieb, brauchte ich fast komplett für mich selbst, ich war es so sehr gewohnt, Zeit mit mir selber zu haben, zum nachdenken, träumen, runterfahren.
Erst gab mir meine kleine Welt Freiheiten, dann hielt sie mich gefangen. Ich verlor den Anschluss und fand nur sehr wenig Freunde, für die meisten war ich wie gewohnt Außenseiter und das hab ich irgendwann auch akzeptiert und gelebt.

Montag, 4. August 2014

Angst

Kennt ihr das Gefühl von extremer Angst? Für mich war sie eine enge Bekannte. Wenn meine Mutter die Stimme erhob, dann wurde mir schlecht, mein Hals schnürte sich zu, das Herz begann zu rasen, die Hände wurden eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper. Selbst wenn es nicht mich betraf und einer meiner Brüder sich etwas anhören musste, bekam ich automatisch Angst, denn vielleicht wäre ich gleich auch an der Reihe.

Meine Mutter regte sich immer sehr schnell auf, auch heute ist es noch so. Wenn man selbst der Grund dafür ist, würde man am liebsten sofort in einem Loch verschwinden, egal wie schlimm es darin ist. Mein Gedanke war immer: hoffentlich ist es bald vorbei. Alles was nicht so war wie sie es wollte, gab Anlass für Schreitiraden und anderes. Wenn ich nicht so schnell und so viel aß wie sie es wollte, dann wurde ich angeschrien. Ich durfte keinen Schluck mehr trinken, kein Wort sagen, nicht rumgucken, sondern essen. Ging es nicht schnell genug, stopfte sie mir das Essen in den Mund. Sie packte mich am Kinn oder am Nacken, Gabel oder Löffel waren so voll, das es kaum in meinen Mund passte und ich oft würgen musste. Dabei schrie sie mich an, mit einem unglaublichen Hass in Tonlage und Worten überschüttete sie mich. Friss endlich! Hör auf zu heulen! Du kommst hier erst weg wenn der Teller leer ist und wenn ich dir alles reinprügeln muss! Morgen kannst du den ganzen Tag dein Zimmer aufräumen und wenn ich auch nur ein Mucks höre, dann kannst du was erleben!
Zu Weinen war immer besonders schlimm für mich, denn das hieß erst Recht sehr viel Ärger, wenn ich weinte, wurde es nur noch schlimmer, manchmal war es der Moment, indem sie völlig die Kontrolle verlor. Da wünschte ich mir die Situation am Tisch zurück, wo sie mich anschrie, mit Essen vollstopfte und mir ein paar Ohrfeigen gab. Wenn sie durchdrehte, zerlegte sie mein Kinderzimmer. Sie stopfte mir vorher so viel Essen wie möglich rein, zerrte mich vom Tisch in mein Zimmer. Sie schrie und tobte, während sie Schränke öffnete, mit einem Arm reinging und alles rauswischte, wie Staub, den man wegwischt. Alles landete auf den Boden, sie trampelte darüber und schrie immer wieder, was für ein Saustall mein Zimmer wäre. Wenn sie etwas fand, was ihr nicht gefiel, legte sie noch einmal zu. Dafür reichte schon ein leeres Glas von Vortag, was noch nicht wieder in die Küche zurück gewandert war. Manchmal kassierte ich ein paar Ohrfeigen, wenn sie mich schreiend etwas fragte, worauf ich einfach nicht antworten konnte, ohne noch mehr Ärger zu bekommen, bzw es gar keine Antwort gab, die ihrer Ansicht nach richtig gewesen wäre. Es tut innerlich so weh, mir war so schlecht, ich fühlte mich so hilflos und allein, alle meine Sachen wurden kaputt gemacht und ich musste dastehen, zuschauen und mich anschreien lassen. Wissentlich, das die nächsten Tage, Wochen für mich ebenfalls zum Horror werden würden. Sie nahm mir so gut wie alle Dinge weg, die mir so sehr am Herzen lagen, die mich ablenkten, die mir eine andere Welt zeigten und mir so gute Laune machen konnten.
Ich hörte gerne Kassetten, folglich war es das, was als erstes eingezogen wurde, nebenbei wurden auch gleich ein paar Kassetten weggeschmissen, welche, das entschied ganz allein sie. Auch andere Dinge landeten im Müll, Dinge die sie für Schrott, unnützes Zeug oder 'scheiße' empfand. Manchmal blieben mir Dinge, mit denen ich noch nie etwas anfangen konnte, die mich nicht interessierten, was sollte ich mit Gesellschaftsspielen? Warum durfte ich mein Bastelzeug nicht behalten? Es war schlichtweg Müll in ihren Augen und es passte ihr nicht, wenn ich mich mit solch einem Müll beschäftigte.
Ganz besondere Dinge versteckte ich immer, zu groß war die Angst, das sie es wegschmeißen könnte. Ich klebte Dinge mit Klebeband unter Schubladen, aber auch nur an denen, die nicht aus dem Schrank rauszuziehen waren, denn diese zog sie immer raus und schmiss sie mit zu allem anderen auf dem Boden. Auch hinter den Schränken versteckte ich Dinge. Zwischen den Socken, manchmal auch zwischen den anderen Klamotten. Sie kontrollierte genau was weg sollte, sie stand da mit einem großen blauen Sack, stopfte alles rein und riss mir auch mal Dinge aus der Hand, die ich retten wollte. Wenn ich Glück hatte, war ich für einen kurzen Moment allein oder sie hatte mich nicht im Blickfeld, dann schnappte ich mir so schnell es ging die wichtigsten Dinge aus den Beuteln, versteckte sie im Flur oder wenn ich ganz großes Glück hatte, dann nahm mein großer Bruder sie mir ab und versteckte sie in seinem Zimmer für mich. Letzteres war aber sehr sehr selten, für mich, wie für ihn, wenn sein Zimmer 'dran' war. Zu groß war die Angst, das sie gleich danach das andere Zimmer auch noch zerlegte. Sobald sie damit begann, fing der andere automatisch in seinem Zimmer hektisch, aber mucksmäuschenstill an aufzuräumen und alles beiseite zu schaffen, was sie in Rage brachte. Währenddessen wollte man bloß keinen Ton von sich geben und hoffte, das sie nicht gleich zu einem selbst rüber kommt. Dann, wenn der Sturm vorbei war, saß man alleine da. Innerlich zu tiefst verletzt, verängstigt, am weinen. Aber leise, bloß nicht hörbar sein! Ich fühlte mich so schutzlos ihr ausgesetzt, sie bestimmte über mich und mein Eigentum, oft war alles, was mir lieb und teuer war, nach solch einer Situation futsch. Entweder kaputt, in den Müll geworfen oder einkassiert auf unbestimmte Zeit. Ständig Angst, das es noch schlimmer wird. Die Ohren sind stets auf der Lauer, jeder Ton außerhalb des Zimmers kann Aufschluss über den Gemütszustand der Mutter geben oder zeigen, das sie wieder ins Zimmer kommt. Ob sie trampelt. In ihrem 'Wutschritt' ist. Oder ob es mein großer Bruder ist und wie seine Stimmung ist. Lauschen war für mich eine wichtige Strategie.
Auch am Tisch, wenn ich vor meinem Teller saß, lauschte ich aufmerksam, was meine Mutter in der Küche alles tat, ob sie gleich vielleicht in einen anderen Raum musste, wie lange es dauern könnte und ob ich die Möglichkeit dabei hätte, Essen zu 'verstecken'. Ich saß mit dem Rücken zu ihr, ich konnte sie nicht sehen, anschauen war auch nicht ratsam. Wenn ich dann die Gelegenheit hatte, dann handelte ich schnell und leise, den Plan dafür brauchte ich mir nicht noch überlegen, der lag bereits genau geplant fest. Zu viel Essen durfte nicht verschwinden, das würde ihr sofort auffallen. Also verschwand ein bisschen von dem, was ich am wenigsten runter bekam oder was mir nicht schmeckte. Oft wickelte ich es einfach in ein Küchentuch ein, wir hatten eine Eckbank in der Küche und unter dem Eckstück war es düster, so konnte ich das kleine Schmuggelpäckchen so weit mein Arm reichte ins Dunkle legen, meine Mutter konnte es unmöglich sehen. Das Essen in den Mülleimer zu werfen habe ich früh aufgegeben, sie sah es natürlich sofort, selbst wenn ich es unter den anderen Müll 'baggerte', fand sie es sofort heraus. So suchte ich mir andere Verstecke. Später, wenn ich dann endlich aufstehen durfte und in meinem Zimmer war, wartete ich darauf, das sie die Küche verließ. Sobald sie nicht mehr in der unmittelbaren Nähe war, ging ich zurück und entsorgte das Päckchen in der Toilette. Ich entwickelte für alles ein System, die Angst brachte mich auf Ideen, die für mich so wichtig waren wie für andere Überlebensstrategien in der Wildnis. Und ständig Angst, sie könnte mich dabei erwischen. Nicht nur die Strafe wäre bitter, auch das ich mir was neues einfallen lassen muss und mir klar ist, das sie mich noch genauer kontrolliert und genau beobachtet.
Immer wieder Angst. Sie war bereits in mir, wenn ich zum Essen ging, egal ob Frühstück, Mittag oder Abendbrot. Schon bevor ich was zu essen vor mir hatte, bekam ich Schweißausbrüche. Jeden Tag aufs neue die Frage, wie ich diese Mahlzeit überstehe.
Die allgegenwärtige Angst. Immer in Alarmbereitschaft. Sie sitzt immer am längeren Hebel. Ich bin alleine, es wird mir keiner helfen. Sie hat Macht über mich, ich bin machtlos.

Noch heute wird mir schlecht, wenn sie sich aufregt, wenn sie schreit. Ich bekomme Angst, ein beklemmendes Gefühl in der Brust und seit zwei Jahren macht es mich selber aggressiv. Seitdem ich diese Wut im Bauch habe, trete ich ihr auch offen entgegen und weise sie zurecht. Wenn sie heute schreit oder ausrastet, dann liegt das nicht an mir, ich bin viel zu selten da. Es reicht schon wenn irgend etwas im Haushalt nicht so läuft, wie sie es will, da reicht es schon wenn der Eierkocher die Eier nicht richtig kocht. Sie schreit, dreht durch, wirft Dinge rum. Ich keife zurück. Hör auf rumzuschreien, das will doch keiner hören! Das Ding ist eine Maschine, der denkt sich nicht 'ich ärger sie jetzt mit purer Absicht, weils mir Spaß macht'! Ich kanns nicht hören wenn du ausrastest, ich bin nicht zu Besuch gekommen um mir das zu geben!
Sie hat es vielleicht gehört, aber angekommen ist es in ihrem Kopf, vorallem in ihrem Herzen, wohl nie. Als ich sie vor vollendeten Tatsachen stellte, war die Reaktion die gleiche wie damals, wenn ich hilfesuchend irgendwelchen Freunden oder Bekannten Dinge erzählte. Kein Verständnis, pure Wut, Egoismus, Empörung, Abwertung. Kein Hinterfragen. Erst recht keine Liebe und Zuwendung. Keine Gefühlsregung da drauf, als ich sagte 'Mama, ich habe noch heute Angst vor dir, wenn du die Stimme erhebst'.
Und plötzlich ist man wieder ein kleines Kind, fühlt sich alleine gelassen und wertlos. Läuft man wieder zur Mutter hin, weil ja jedes Kind eine Mutter haben möchte und erst recht braucht, wenn der Vater 500 km entfernt lebt, rennt man wieder in das Messer, das einen schon vorher verletzt hat. Es ist schon fast wie eine Art Selbstverletzung, nur unbewusst. Ich hatte nie wirkliche Blutergüsse durch meine Mutter erhalten, nie hat man äußerlich etwas gesehen. Aber sie hat mir die pure Angst in Mark und Bein getrieben. Ich würde nicht sagen das ich mir als Kind dachte, mein Leben sei in Gefahr, das ich eine Situation mit ihr nicht überleben würde. Nie kam mir der Gedanke, sie wolle mich töten oder würde das zustande bringen. Der Gedanke war eher diese Situation irgendwie zu überstehen, mich irgendwie zu retten und die Folgen so gering wie möglich zu halten, damit es mir nicht 'allzu schlecht' ging.
'Mama, ich habe Angst vor dir.'
'Dann sehe ich auch keinen weiteren Grund mit dir Kontakt zu haben, mit falschen Leuten, die mir was vorspielen, gebe ich mich nicht mehr ab, sowas brauche und will ich nicht in meinem Leben.'

Ich war 15, als sie mir das letzte Mal Essen reinprügelte und mein Zimmer zerlegte. Ich kam ins Krankenhaus weil ich nichts mehr aß, noch sonst irgendwie reagierte, ich war innerlich leer. Hilfe bekam ich nicht. Ich war das schlimme Mädchen, das nie hörte, das alles nur falsch machte. Die zusammenfassende Antwort von Arzt und Psychologe: hör darauf was deine Mutter sagt, beteilige dich am Haushalt, halte dein Zimmer sauber, iss vernünftig und kümmer dich um deine Schulsachen.
Zurück in die Angst? Wozu eigentlich noch. Wer will so leben? Ich nicht mehr.
Und doch meinte es das Leben zum allerersten Mal gut mit mir, denn da war ein Mensch, der mir einen Grund gab, zu bleiben, für den ich wichtig war. Meine beste Freundin war und ist auch heute noch viel mehr Familie und zuhause für mich als meine Mutter.

Samstag, 2. August 2014

Mein Bruder ist krank

Ist es ein Schock, wenn man plötzlich erfährt, das der Bruder oder die Schwester schwer krank ist? Krebs? Leukämie? Thalassämie? Die Liste an solchen Krankheiten ist lang und die Diagnose reißt aus dem gewohnten Alltag raus.
Ich weiß nicht wie das ist. Ich bin die kleine Schwester, mein großer Bruder ist krank, von Geburt an, er hat die Blackfin-Diamond-Anämie und einen IgG-II-Mangel. Was ist das?
Als Kind erklärte man mir es so. Durch die BDA stellt sein Körper keine roten Blutkörperchen her, durch den IgG-II-Mangel keine weißen Blutkörperchen. Wird er wieder gesund? Niemand weiß es. Blackfin-Diamond-Anämie oder Diamond-Blackfin-Anämie oder auch Diamond-Blackfin-Syndrom, wie man es schreibt ist egal, sie ist so selten wie unerforscht, Ende der 80er, Anfang der 90er weiß man viel zu wenig, bis jetzt hat sich daran kaum etwas verändert. Was soll man also einem kleinen Kind sagen?
Meine erste Erinnerung daran, wie sich die Krankheit zeigte, war folgende. Er lag auf dem Boden vor unserem großen Aquarium, ganz bleich, ihm ging es sehr schlecht, das verstand ich, aber würde es ihm wieder besser gehen?
Das Kinderkrankenhaus wurde nicht nur zum zweiten zuhause meines Bruders, für mich war es ebenfalls Alltag dort oft zu sein. Ich wusste das es ihm sehr schlecht geht, das er sehr krank ist und immer wieder die Frage im Kopf; wird er wieder gesund? Knochenmarktransplantation, das war ein Wort, mit dem ich mit 3~4 Jahren natürlich nichts anfangen konnte, wieder bekam ich eine einfache kindgerechte Erklärung, von einer Schwester, die immer den Fingerpiks bei meinem Bruder machte, bevor er auf Station ging. Diesmal saß ich nämlich da und musste meinen Finger herreichen. Warum krieg ich einen Fingerpieks? Sie fing an zu erklären.
Geschwister sind ja die gleiche Mischung aus Mama und Papa. Das Blut von deinem Bruder ist ja krank, aber deines ist ja gesund und dann kann dein Blut seinem Blut vielleicht helfen, wieder gesund zu werden.
Okay. Dafür gibt man gerne den Finger her, sogar alle zehn auf einmal. Ich weiß nicht ob ich mir gewünscht hatte, ihm helfen zu können oder ob ich enttäuscht war, das es schließlich nicht möglich war, denn etwas anderes hatte mich in diesem Moment viel mehr getroffen und meinen Bruder wohl ebenso, denn er war nicht mein 'richtiger Bruder', sondern mein Halbbruder. Für mich als Kind brach damit der Rest einer normalen Welt zusammen, mein Papa war nicht sein Papa. Ob die Schwester, die mir Blut abnahm, das wusste? Ich bekam erst eine Erklärung einer Schwester, warum ich ihm nicht helfen konnte, bis man mir genauer sagte warum.
Dein Bruder hat Erdbeerblut und du hast Kirschblut, das sind leider zwei verschiedene Sorten, deswegen kann dein Blut seinem nicht helfen.
Gestern noch Mama, Papa, Bruder und ich. Eben noch Mama, Papa, schwerkranker Bruder und ich. Nun Mama, mein Papa, schwerkranker Halbbruder und ich. Was ist morgen?
Die Welt geht drunter und drüber, hin und her, wo steht mir der Kopf? Alles ist anders, alles dreht sich um meinen schwerkranken Halbbruder, alle sorgen sich um ihn, wie lange wird er leben? Wie geht es deinem Bruder? Ist dein Bruder noch im Krankenhaus? Ist deine Mama da oder ist sie bei deinem Bruder? Warum hast du dein Zimmer nicht aufgeräumt? Wieso schiebst du die Sachen nur unters Bett? Iss endlich auf! Ich fahre gleich zu deinem Bruder, mach keinem Fremden die Tür auf. Ich kann grade nicht. Hast du immer noch nicht aufgegessen? Warum hast du ins Bett gemacht? Stell dich nicht so an! Wenn man nur Süßkram isst muss man ja Bauchschmerzen auf Toilette haben! Wieso ist dein Teller noch nicht leer? Wer schön sein will muss leiden! Stör mich nicht wenn ich telefoniere. Für deinen Bruder eins und für deinen Cousin, aber für Kinder die nicht aufessen gibt es kein neues Kuscheltier. Wenn dein Teller nicht in 10 Minuten leer ist..!

Meine Welt, mein Alltag im Alter bis 4 1/2. Als Kind konnte ich es nie benennen, heute kann ich sagen, das ich ständig Angst hatte, Angst vor meiner Mutter, Angst davor das mein Bruder stirbt, Angst alleine zu sein und vergessen zu werden. So begann meine Kindheit, es war Alltag, Normalität für mich, mein Bruder war wichtiger als ich, schließlich war er schwer krank, dafür galt es Verständnis aufzubringen und eigene Bedürfnisse hinten anzustellen, denn wer muckt, bekommt nichts außer Ärger, Leid und Last. Und so war ich weniger, als ich eigentlich war. Man muss funktionieren. Aber das funktioniert nicht. Die Folgen können fassettenreich sein. Aber es heißt stets: stell dich nicht an, dein Bruder ist schwer krank.