Dienstag, 19. Juli 2016

Post mortem

Fast eineinhalb Jahre liegt der Tod meines Bruders nun zurück.
Ich als kleine Schwester wusste ganz genau, was mein Bruder nach seinem Ableben von mir erwarten würde: auf unsere Mutter zu achten, das sie sich nichts antat. Doch wie widerstrebend ist das Gefühl, sich um jemanden zu kümmern, der einen die meiste Zeit seines Lebens misshandelt hat? Sich mit der eigenen Trauer um den großen Bruder nicht richtig befassen zu können, weil diese Energie für andere Dinge drauf geht?
Es ist nicht nur widerstrebend, es ist nahezu widerlich, auf gute Tochter zu machen. Ich habe ein wachsames Auge auf sie geworfen, habe Kontakt wieder zugelassen, habe mich um viele persönliche Dinge meines Bruders gekümmert. Schnell fiel mir dabei auf, wie ich als Ersatz für meinen Bruder fungierte - ich sollte nun zugangsberechtigt sein für ihre Bankangelegenheiten, falls ihr etwas zustößt, vorher war das mein Bruder. Mir wurden Dinge erzählt, die vorher nur ihm mitgeteilt wurden. Die sie ihrem Ex und meinem kleinen Bruder nie erzählte, obwohl sie mit denen im gleichen Haus lebte. Da hieß es "Ich fliege nächsten Monat wieder weg, aber erzähl das nicht dem Alten oder deinem kleinen Bruder". Es ist so ein ekeliges Gefühl, immer deutlicher zu spüren, für gewisse Dinge ein Ersatz zu sein. Darum gebeten habe ich nie. Auch wurde ich nicht gefragt, ob ich das wollte.
Und immer öfter entzog sie sich Verantwortungen, schob Ausreden vor, lud die Verantwortung auf andere ab. Und immer mehr steigerte sie sich in ihr verzehrtes Weltbild hinein, es gab nur noch sie und die Trauer um ihren geliebten Sohn. Nur das. Nichts anderes. Keine Tochter. Keinen jüngeren Sohn. Keine Verantwortung gegenüber anderen. Sie war die Arme in ihrer Welt.
Sie ließ ihren jüngsten Sohn das erste Weihnachten nach diesem Schicksalstag alleine zuhaus. Ja, er war 18. Ja, er hatte seinen Erzeuger zuhaus, der sich sonst um nichts wirklich scherte. Ja, ihr jüngster Sohn hatte ihr gesagt, sie solle ruhig nach Mallorca fliegen, wenn sie Weihnachten zu sehr an ihn erinnern und sie es zu sehr schmerzen würde. Was hätte er auch anderes tun sollen? Er nahm bei allem Rücksicht auf sie, umsorgte sie.

Doch wer war nochmal das Kind, wer die Mutter?

Oft saß sie vor mir und klagte mir ihr Leid. Ihr ehemaliger Arbeitgeber hätte sie dazu genötigt, im Laden zu stehen, weil sonst keiner da gewesen wäre, deshalb hätte sie die letzten Stunden mit ihrem Sohn verpasst. Deshalb könne sie dort auch einfach nicht mehr arbeiten. Deshalb ist sie in die Frührente gegangen.
Sie brachte ihn an einem Sonntag in das Krankenhaus. In der Nacht zu Mittwoch starb er auf dem Operationstisch. Ich erfuhr von seinem Tod erst am Mittwoch Abend. Sie hatte mich nicht angerufen und gesagt, das er im Krankenhaus liegt. Sie sagte mir nicht, wie schlecht es um ihn stand. Sie ließ mir keine Möglichkeit, mich zu entscheiden, noch einmal zu ihm zu fahren. Ich wäre von der Arbeit gegangen und wenn wegen mir die Arbeit dort zum erliegen gekommen wäre. In dieser Situation hat jeder eine Wahl. War diese Tatsache zu ihr durchgedrungen? Nein. Sie war schließlich die liebende Mutter, die um die letzten Stunden mit ihren geliebten Sohn gebracht wurde. Alles andere - nebensächlich.

Was bin ich wert?

Diese Frage hab ich mir in den letzten Monaten wieder häufiger gestellt. Als Kind war es eine Frage, die mir täglich durch den Kopf ging. Was bin ich meiner Mutter wert? Was bedeute ich ihr? Als Kind lautete die Antwort für mich, das ich ihr Ärger bedeute, das ich ein schlimmes Kind sei, ein abscheuliches, ungezogenes Kind, das nie das tut, was die Mutter von einem guten Kind erwartet.
Jetzt als Erwachsene bin ich die, auf der sie ihre Verantwortungen abstellen kann. Ich kümmer mich um dies, um jenes.
Ich bin ja die gute Tochter, die sowas hinkriegt, weil ich ja stark bin. Gefragt wurde ich übrigens nie, wie es mir mit alledem ging. Was für Gedanken ich hatte. Ich kann schließlich ihre Verantwortungen übernehmen, sie umsorgen, sie ist die leidene Mutter, ich die starke Tochter.
Bin ich? Was bin ich?
Ich bin die stoische Tochter, die keinen Kontakt zum kleinen Bruder hat. Warum? Zugegeben, unsere geschwisterliche Bindung existierte noch nie wirklich. Und was wäre, wenn ich mich um ihn kümmern würde? Ich wäre die gute Tochter, die ihren kleinen Bruder bemuttert und die leidene Mutter von einer weiteren Verantwortung erleichtert.
Ich bin die maßlos wartende Tochter, die dummerweise noch immer darauf wartet, das die Mutter endlich zu einem aufarbeitenden Gespräch bereit ist. Welches es niemals geben wird. Denn sie hat doch nie Fehler gemacht. Ich bin schließlich auch die Tochter, die maßlos egoistisch als Kind war, die dachte, die Welt drehe sich nur um mich, die deswegen der Mutter so viel Ärger bereitet hat, die nicht essen wollte, sodass die Mutter ihr das Essen einprügeln musste. Das geschah aus Liebe. Oder? Als naives, nach Liebe suchendes Kind hätte ich es wohl direkt geglaubt. Vielleicht habe ich es auch geglaubt. Schließlich habe ich mich immer als das schlimme, böse Kind angesehen.
Ich bin die verletzte Tochter, die oft nicht weiß, wo hin mit dem Emotionen. In einem Moment wünschte ich, es würde sich endlich zum Besseren wenden, im nächsten Moment überwiegt die blanke Wut auf meine Mutter, was wiederum in Hass umschlägt, denn diese ungezügelte Wut, die hat sie mir eingeprügelt und mich gelehrt. Es lässt mich weinen und verzweifeln, ich fühle mich wie Dreck, ich will nicht so enden wie sie, bevor mein Leben überhaupt richtig angefangen hat.

Gute Miene zum bösen Spiel.

Oder besser gesagt zum falschen Spiel. Es ist so zerreißend, sich um jemanden zu kümmern, der einem so viele grausame Dinge angetan hat. Diesen Menschen zu trösten und sich um ihn zu kümmern. Es macht mich krank. Und ehe ich es bemerkt habe, hatte sie mich wieder unter ihrem Scheffel. Der Ausbruch ist aber wesentlich einfacher als Kind - ich weiß es, bin mir bewusst, was sie mir mit ihrem Verhalten antut. Was es mit mir macht, sich um sie zu kümmern. Und zuletzt bin ich auch nicht mehr alleine. Mir klare Regeln im Kontakt mit ihr zu setzen, war nicht leicht. Es ist ein Prozess, der schon viele Jahre läuft und der wohl niemals abgeschlossen ist. Ob mir diese Regeln helfen, mich selbst vor ihr zu schützen, weiß ich nicht. Ich hoffe es.

Ich bin Ersatz und doch irgendwie nicht. Je nach ihren Interessen und Launen. Es interessiert sie nicht, was ich mache. Sie fragt nicht, wie ich mit dem Tod meines großen Bruders zurecht komme. Es ist ihr völlig egal, wie sehr sie mir mit all ihren Taten geschadet hat, für sie sind diese niemals passiert. Was sie interessiert, sind Enkelkinder. Bevor sie ihren Platz auf Mallorca gefunden hatte, interessierte sie sich dafür, ob in unserem zukünftigen Haus denn auch Platz für sie wäre. Sie könnte dann ja auf die Enkelkinder aufpassen.

Das sind die Momente, in denen ich mich richtig dreckig fühle. Es ist nicht das Interesse an meiner Person, sondern das Interesse an dem, was ich ihr liefern kann. Noch habe ich keine Kinder und ich werde einen Teufel tun, ihr diese jemals auch nur namentlich gegenüber zu erwähnen. Niemals werde ich zulassen, mit ihr unter einem Dach zu leben. Und im nächsten Moment verabscheue ich mich selbst für dieses ekelhafte Schwarz-Weiß-Denken, welches sie mir eingetrichtert hat. Entweder du gehörst dazu oder du gehörst in die Gosse. Dann brauche ich Zuspruch von anderen, die mir bestätigen, das meine Ansicht in diesem Fall richtig, ja notwendig ist, damit ich selbst gesund bleibe, im Kopf wie im Herzen.

Die Probleme sind nicht unbedingt mehr geworden nach dem Tod meines Bruders. Sie haben sich ausgebreitet und rauben mir die Energie. Sie beeinflussen mich nun auch an anderen Stellen und ich frage mich, wird es je ein Ende haben?

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