Montag, 4. August 2014

Angst

Kennt ihr das Gefühl von extremer Angst? Für mich war sie eine enge Bekannte. Wenn meine Mutter die Stimme erhob, dann wurde mir schlecht, mein Hals schnürte sich zu, das Herz begann zu rasen, die Hände wurden eiskalt und ich zitterte am ganzen Körper. Selbst wenn es nicht mich betraf und einer meiner Brüder sich etwas anhören musste, bekam ich automatisch Angst, denn vielleicht wäre ich gleich auch an der Reihe.

Meine Mutter regte sich immer sehr schnell auf, auch heute ist es noch so. Wenn man selbst der Grund dafür ist, würde man am liebsten sofort in einem Loch verschwinden, egal wie schlimm es darin ist. Mein Gedanke war immer: hoffentlich ist es bald vorbei. Alles was nicht so war wie sie es wollte, gab Anlass für Schreitiraden und anderes. Wenn ich nicht so schnell und so viel aß wie sie es wollte, dann wurde ich angeschrien. Ich durfte keinen Schluck mehr trinken, kein Wort sagen, nicht rumgucken, sondern essen. Ging es nicht schnell genug, stopfte sie mir das Essen in den Mund. Sie packte mich am Kinn oder am Nacken, Gabel oder Löffel waren so voll, das es kaum in meinen Mund passte und ich oft würgen musste. Dabei schrie sie mich an, mit einem unglaublichen Hass in Tonlage und Worten überschüttete sie mich. Friss endlich! Hör auf zu heulen! Du kommst hier erst weg wenn der Teller leer ist und wenn ich dir alles reinprügeln muss! Morgen kannst du den ganzen Tag dein Zimmer aufräumen und wenn ich auch nur ein Mucks höre, dann kannst du was erleben!
Zu Weinen war immer besonders schlimm für mich, denn das hieß erst Recht sehr viel Ärger, wenn ich weinte, wurde es nur noch schlimmer, manchmal war es der Moment, indem sie völlig die Kontrolle verlor. Da wünschte ich mir die Situation am Tisch zurück, wo sie mich anschrie, mit Essen vollstopfte und mir ein paar Ohrfeigen gab. Wenn sie durchdrehte, zerlegte sie mein Kinderzimmer. Sie stopfte mir vorher so viel Essen wie möglich rein, zerrte mich vom Tisch in mein Zimmer. Sie schrie und tobte, während sie Schränke öffnete, mit einem Arm reinging und alles rauswischte, wie Staub, den man wegwischt. Alles landete auf den Boden, sie trampelte darüber und schrie immer wieder, was für ein Saustall mein Zimmer wäre. Wenn sie etwas fand, was ihr nicht gefiel, legte sie noch einmal zu. Dafür reichte schon ein leeres Glas von Vortag, was noch nicht wieder in die Küche zurück gewandert war. Manchmal kassierte ich ein paar Ohrfeigen, wenn sie mich schreiend etwas fragte, worauf ich einfach nicht antworten konnte, ohne noch mehr Ärger zu bekommen, bzw es gar keine Antwort gab, die ihrer Ansicht nach richtig gewesen wäre. Es tut innerlich so weh, mir war so schlecht, ich fühlte mich so hilflos und allein, alle meine Sachen wurden kaputt gemacht und ich musste dastehen, zuschauen und mich anschreien lassen. Wissentlich, das die nächsten Tage, Wochen für mich ebenfalls zum Horror werden würden. Sie nahm mir so gut wie alle Dinge weg, die mir so sehr am Herzen lagen, die mich ablenkten, die mir eine andere Welt zeigten und mir so gute Laune machen konnten.
Ich hörte gerne Kassetten, folglich war es das, was als erstes eingezogen wurde, nebenbei wurden auch gleich ein paar Kassetten weggeschmissen, welche, das entschied ganz allein sie. Auch andere Dinge landeten im Müll, Dinge die sie für Schrott, unnützes Zeug oder 'scheiße' empfand. Manchmal blieben mir Dinge, mit denen ich noch nie etwas anfangen konnte, die mich nicht interessierten, was sollte ich mit Gesellschaftsspielen? Warum durfte ich mein Bastelzeug nicht behalten? Es war schlichtweg Müll in ihren Augen und es passte ihr nicht, wenn ich mich mit solch einem Müll beschäftigte.
Ganz besondere Dinge versteckte ich immer, zu groß war die Angst, das sie es wegschmeißen könnte. Ich klebte Dinge mit Klebeband unter Schubladen, aber auch nur an denen, die nicht aus dem Schrank rauszuziehen waren, denn diese zog sie immer raus und schmiss sie mit zu allem anderen auf dem Boden. Auch hinter den Schränken versteckte ich Dinge. Zwischen den Socken, manchmal auch zwischen den anderen Klamotten. Sie kontrollierte genau was weg sollte, sie stand da mit einem großen blauen Sack, stopfte alles rein und riss mir auch mal Dinge aus der Hand, die ich retten wollte. Wenn ich Glück hatte, war ich für einen kurzen Moment allein oder sie hatte mich nicht im Blickfeld, dann schnappte ich mir so schnell es ging die wichtigsten Dinge aus den Beuteln, versteckte sie im Flur oder wenn ich ganz großes Glück hatte, dann nahm mein großer Bruder sie mir ab und versteckte sie in seinem Zimmer für mich. Letzteres war aber sehr sehr selten, für mich, wie für ihn, wenn sein Zimmer 'dran' war. Zu groß war die Angst, das sie gleich danach das andere Zimmer auch noch zerlegte. Sobald sie damit begann, fing der andere automatisch in seinem Zimmer hektisch, aber mucksmäuschenstill an aufzuräumen und alles beiseite zu schaffen, was sie in Rage brachte. Währenddessen wollte man bloß keinen Ton von sich geben und hoffte, das sie nicht gleich zu einem selbst rüber kommt. Dann, wenn der Sturm vorbei war, saß man alleine da. Innerlich zu tiefst verletzt, verängstigt, am weinen. Aber leise, bloß nicht hörbar sein! Ich fühlte mich so schutzlos ihr ausgesetzt, sie bestimmte über mich und mein Eigentum, oft war alles, was mir lieb und teuer war, nach solch einer Situation futsch. Entweder kaputt, in den Müll geworfen oder einkassiert auf unbestimmte Zeit. Ständig Angst, das es noch schlimmer wird. Die Ohren sind stets auf der Lauer, jeder Ton außerhalb des Zimmers kann Aufschluss über den Gemütszustand der Mutter geben oder zeigen, das sie wieder ins Zimmer kommt. Ob sie trampelt. In ihrem 'Wutschritt' ist. Oder ob es mein großer Bruder ist und wie seine Stimmung ist. Lauschen war für mich eine wichtige Strategie.
Auch am Tisch, wenn ich vor meinem Teller saß, lauschte ich aufmerksam, was meine Mutter in der Küche alles tat, ob sie gleich vielleicht in einen anderen Raum musste, wie lange es dauern könnte und ob ich die Möglichkeit dabei hätte, Essen zu 'verstecken'. Ich saß mit dem Rücken zu ihr, ich konnte sie nicht sehen, anschauen war auch nicht ratsam. Wenn ich dann die Gelegenheit hatte, dann handelte ich schnell und leise, den Plan dafür brauchte ich mir nicht noch überlegen, der lag bereits genau geplant fest. Zu viel Essen durfte nicht verschwinden, das würde ihr sofort auffallen. Also verschwand ein bisschen von dem, was ich am wenigsten runter bekam oder was mir nicht schmeckte. Oft wickelte ich es einfach in ein Küchentuch ein, wir hatten eine Eckbank in der Küche und unter dem Eckstück war es düster, so konnte ich das kleine Schmuggelpäckchen so weit mein Arm reichte ins Dunkle legen, meine Mutter konnte es unmöglich sehen. Das Essen in den Mülleimer zu werfen habe ich früh aufgegeben, sie sah es natürlich sofort, selbst wenn ich es unter den anderen Müll 'baggerte', fand sie es sofort heraus. So suchte ich mir andere Verstecke. Später, wenn ich dann endlich aufstehen durfte und in meinem Zimmer war, wartete ich darauf, das sie die Küche verließ. Sobald sie nicht mehr in der unmittelbaren Nähe war, ging ich zurück und entsorgte das Päckchen in der Toilette. Ich entwickelte für alles ein System, die Angst brachte mich auf Ideen, die für mich so wichtig waren wie für andere Überlebensstrategien in der Wildnis. Und ständig Angst, sie könnte mich dabei erwischen. Nicht nur die Strafe wäre bitter, auch das ich mir was neues einfallen lassen muss und mir klar ist, das sie mich noch genauer kontrolliert und genau beobachtet.
Immer wieder Angst. Sie war bereits in mir, wenn ich zum Essen ging, egal ob Frühstück, Mittag oder Abendbrot. Schon bevor ich was zu essen vor mir hatte, bekam ich Schweißausbrüche. Jeden Tag aufs neue die Frage, wie ich diese Mahlzeit überstehe.
Die allgegenwärtige Angst. Immer in Alarmbereitschaft. Sie sitzt immer am längeren Hebel. Ich bin alleine, es wird mir keiner helfen. Sie hat Macht über mich, ich bin machtlos.

Noch heute wird mir schlecht, wenn sie sich aufregt, wenn sie schreit. Ich bekomme Angst, ein beklemmendes Gefühl in der Brust und seit zwei Jahren macht es mich selber aggressiv. Seitdem ich diese Wut im Bauch habe, trete ich ihr auch offen entgegen und weise sie zurecht. Wenn sie heute schreit oder ausrastet, dann liegt das nicht an mir, ich bin viel zu selten da. Es reicht schon wenn irgend etwas im Haushalt nicht so läuft, wie sie es will, da reicht es schon wenn der Eierkocher die Eier nicht richtig kocht. Sie schreit, dreht durch, wirft Dinge rum. Ich keife zurück. Hör auf rumzuschreien, das will doch keiner hören! Das Ding ist eine Maschine, der denkt sich nicht 'ich ärger sie jetzt mit purer Absicht, weils mir Spaß macht'! Ich kanns nicht hören wenn du ausrastest, ich bin nicht zu Besuch gekommen um mir das zu geben!
Sie hat es vielleicht gehört, aber angekommen ist es in ihrem Kopf, vorallem in ihrem Herzen, wohl nie. Als ich sie vor vollendeten Tatsachen stellte, war die Reaktion die gleiche wie damals, wenn ich hilfesuchend irgendwelchen Freunden oder Bekannten Dinge erzählte. Kein Verständnis, pure Wut, Egoismus, Empörung, Abwertung. Kein Hinterfragen. Erst recht keine Liebe und Zuwendung. Keine Gefühlsregung da drauf, als ich sagte 'Mama, ich habe noch heute Angst vor dir, wenn du die Stimme erhebst'.
Und plötzlich ist man wieder ein kleines Kind, fühlt sich alleine gelassen und wertlos. Läuft man wieder zur Mutter hin, weil ja jedes Kind eine Mutter haben möchte und erst recht braucht, wenn der Vater 500 km entfernt lebt, rennt man wieder in das Messer, das einen schon vorher verletzt hat. Es ist schon fast wie eine Art Selbstverletzung, nur unbewusst. Ich hatte nie wirkliche Blutergüsse durch meine Mutter erhalten, nie hat man äußerlich etwas gesehen. Aber sie hat mir die pure Angst in Mark und Bein getrieben. Ich würde nicht sagen das ich mir als Kind dachte, mein Leben sei in Gefahr, das ich eine Situation mit ihr nicht überleben würde. Nie kam mir der Gedanke, sie wolle mich töten oder würde das zustande bringen. Der Gedanke war eher diese Situation irgendwie zu überstehen, mich irgendwie zu retten und die Folgen so gering wie möglich zu halten, damit es mir nicht 'allzu schlecht' ging.
'Mama, ich habe Angst vor dir.'
'Dann sehe ich auch keinen weiteren Grund mit dir Kontakt zu haben, mit falschen Leuten, die mir was vorspielen, gebe ich mich nicht mehr ab, sowas brauche und will ich nicht in meinem Leben.'

Ich war 15, als sie mir das letzte Mal Essen reinprügelte und mein Zimmer zerlegte. Ich kam ins Krankenhaus weil ich nichts mehr aß, noch sonst irgendwie reagierte, ich war innerlich leer. Hilfe bekam ich nicht. Ich war das schlimme Mädchen, das nie hörte, das alles nur falsch machte. Die zusammenfassende Antwort von Arzt und Psychologe: hör darauf was deine Mutter sagt, beteilige dich am Haushalt, halte dein Zimmer sauber, iss vernünftig und kümmer dich um deine Schulsachen.
Zurück in die Angst? Wozu eigentlich noch. Wer will so leben? Ich nicht mehr.
Und doch meinte es das Leben zum allerersten Mal gut mit mir, denn da war ein Mensch, der mir einen Grund gab, zu bleiben, für den ich wichtig war. Meine beste Freundin war und ist auch heute noch viel mehr Familie und zuhause für mich als meine Mutter.

1 Kommentar:

  1. Wow, ich finde grade keine Worte für solche Erlebnisse, aber ich weiß zumindest, was du mit dieser Angst meinst.
    Ich denke nicht, dass man sowas nachvollziehen kann, wenn man es nicht schonmal selbst gefühlt hat. Und ich will jetzt ganz sicher nicht meine (vergleichsweise harmlose) Kindheit/Jugend mit deiner Vergleichen, doch durch die ständige Streiterei meiner Eltern geht es mir nun durchaus ähnlich, wenn Menschen in meiner direkten Umgebung lauter werden und man die Anspannung in der Luft spüren kann: Lähmung, Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern - Panik und, was auch immer passiert, bloß nicht auffallen, bloß nicht bemerkbar machen. So in die Richtung: "Verhalt dich ruhig und dann geht das sicher bald vorbei, wie immer ... hoffentlich."
    Es ist eine schreckliche Einschränkung, die unnötig viel Zeit hatte sich zu manifestieren, weil du selbst von den Ärzten, der sogenannten "professionellen Hilfe" nicht ernstgenommen wurdest.
    Und die offensichtlich schwere pathologische psychische Störung deiner Mutter hin oder her, der Schaden bei dir ist angerichtet und da hat Rücksicht ihr gegenüber eigentlich nichts (mehr) zu suchen. Besonders nicht bei einer so uneinsichtigen und weiterhin derartig ablehnenden, empathielosen Haltung ihrer eigenen Tochter gegenüber.
    Wow, unvorstellbar.

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