Samstag, 2. August 2014

Mein Bruder ist krank

Ist es ein Schock, wenn man plötzlich erfährt, das der Bruder oder die Schwester schwer krank ist? Krebs? Leukämie? Thalassämie? Die Liste an solchen Krankheiten ist lang und die Diagnose reißt aus dem gewohnten Alltag raus.
Ich weiß nicht wie das ist. Ich bin die kleine Schwester, mein großer Bruder ist krank, von Geburt an, er hat die Blackfin-Diamond-Anämie und einen IgG-II-Mangel. Was ist das?
Als Kind erklärte man mir es so. Durch die BDA stellt sein Körper keine roten Blutkörperchen her, durch den IgG-II-Mangel keine weißen Blutkörperchen. Wird er wieder gesund? Niemand weiß es. Blackfin-Diamond-Anämie oder Diamond-Blackfin-Anämie oder auch Diamond-Blackfin-Syndrom, wie man es schreibt ist egal, sie ist so selten wie unerforscht, Ende der 80er, Anfang der 90er weiß man viel zu wenig, bis jetzt hat sich daran kaum etwas verändert. Was soll man also einem kleinen Kind sagen?
Meine erste Erinnerung daran, wie sich die Krankheit zeigte, war folgende. Er lag auf dem Boden vor unserem großen Aquarium, ganz bleich, ihm ging es sehr schlecht, das verstand ich, aber würde es ihm wieder besser gehen?
Das Kinderkrankenhaus wurde nicht nur zum zweiten zuhause meines Bruders, für mich war es ebenfalls Alltag dort oft zu sein. Ich wusste das es ihm sehr schlecht geht, das er sehr krank ist und immer wieder die Frage im Kopf; wird er wieder gesund? Knochenmarktransplantation, das war ein Wort, mit dem ich mit 3~4 Jahren natürlich nichts anfangen konnte, wieder bekam ich eine einfache kindgerechte Erklärung, von einer Schwester, die immer den Fingerpiks bei meinem Bruder machte, bevor er auf Station ging. Diesmal saß ich nämlich da und musste meinen Finger herreichen. Warum krieg ich einen Fingerpieks? Sie fing an zu erklären.
Geschwister sind ja die gleiche Mischung aus Mama und Papa. Das Blut von deinem Bruder ist ja krank, aber deines ist ja gesund und dann kann dein Blut seinem Blut vielleicht helfen, wieder gesund zu werden.
Okay. Dafür gibt man gerne den Finger her, sogar alle zehn auf einmal. Ich weiß nicht ob ich mir gewünscht hatte, ihm helfen zu können oder ob ich enttäuscht war, das es schließlich nicht möglich war, denn etwas anderes hatte mich in diesem Moment viel mehr getroffen und meinen Bruder wohl ebenso, denn er war nicht mein 'richtiger Bruder', sondern mein Halbbruder. Für mich als Kind brach damit der Rest einer normalen Welt zusammen, mein Papa war nicht sein Papa. Ob die Schwester, die mir Blut abnahm, das wusste? Ich bekam erst eine Erklärung einer Schwester, warum ich ihm nicht helfen konnte, bis man mir genauer sagte warum.
Dein Bruder hat Erdbeerblut und du hast Kirschblut, das sind leider zwei verschiedene Sorten, deswegen kann dein Blut seinem nicht helfen.
Gestern noch Mama, Papa, Bruder und ich. Eben noch Mama, Papa, schwerkranker Bruder und ich. Nun Mama, mein Papa, schwerkranker Halbbruder und ich. Was ist morgen?
Die Welt geht drunter und drüber, hin und her, wo steht mir der Kopf? Alles ist anders, alles dreht sich um meinen schwerkranken Halbbruder, alle sorgen sich um ihn, wie lange wird er leben? Wie geht es deinem Bruder? Ist dein Bruder noch im Krankenhaus? Ist deine Mama da oder ist sie bei deinem Bruder? Warum hast du dein Zimmer nicht aufgeräumt? Wieso schiebst du die Sachen nur unters Bett? Iss endlich auf! Ich fahre gleich zu deinem Bruder, mach keinem Fremden die Tür auf. Ich kann grade nicht. Hast du immer noch nicht aufgegessen? Warum hast du ins Bett gemacht? Stell dich nicht so an! Wenn man nur Süßkram isst muss man ja Bauchschmerzen auf Toilette haben! Wieso ist dein Teller noch nicht leer? Wer schön sein will muss leiden! Stör mich nicht wenn ich telefoniere. Für deinen Bruder eins und für deinen Cousin, aber für Kinder die nicht aufessen gibt es kein neues Kuscheltier. Wenn dein Teller nicht in 10 Minuten leer ist..!

Meine Welt, mein Alltag im Alter bis 4 1/2. Als Kind konnte ich es nie benennen, heute kann ich sagen, das ich ständig Angst hatte, Angst vor meiner Mutter, Angst davor das mein Bruder stirbt, Angst alleine zu sein und vergessen zu werden. So begann meine Kindheit, es war Alltag, Normalität für mich, mein Bruder war wichtiger als ich, schließlich war er schwer krank, dafür galt es Verständnis aufzubringen und eigene Bedürfnisse hinten anzustellen, denn wer muckt, bekommt nichts außer Ärger, Leid und Last. Und so war ich weniger, als ich eigentlich war. Man muss funktionieren. Aber das funktioniert nicht. Die Folgen können fassettenreich sein. Aber es heißt stets: stell dich nicht an, dein Bruder ist schwer krank.

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