Dienstag, 12. August 2014

kleine Welt

Mein Umfeld war nie wirklich beständig. Oft zogen wir um, ich wechselte von einer Schule zur anderen, hier und da längere Krankenhausaufenthalte meines Bruders. Mal war ich mit im Krankenhaus, mal kam ich bei Bekannten unter.
Ich kann an meinen Händen nicht abzählen, wie oft ich die Schule wechselte, für die Anzahl der Wohnortwechsel brauche ich zusätzlich noch meine Zehen. Umziehen fällt mir leicht, ich weiß sehr gut wie ich was verpacke. Jedoch wusste ich nie, wie man auf andere Kinder zugeht. Ich hatte nie wirklich Freunde als Kind, ich war ja nie lange genug an einem Ort dafür. Ich war eher die komische Außenseiterin, die nicht dazu passte und aufgrund dessen nie akzeptiert wurde. Ich war ein ängstliches, zurückhaltendes Kind, ständig hatte ich Angst, das mir etwas passiert.
Bei einer Schule rannte ich immer so schnell es ging nach Hause, damit mich die anderen Kinder der Nachbarschaft nicht erwischten. Sie schubsten mich rum, nahmen mir meine Tasche weg, ich hatte Angst vor ihnen. Einmal kletterte ich über einen Drahtzaun, wobei die gute rote Jeanshose ein großes Loch am Knie bekam. Ich landete im Garten der Vermieterin, die unter uns wohnte, ich huschte schnell an der Hausmauer entlang zur Haustür, damit sie mich nicht sah. Der Garten war verboten für uns. Auf dem Weg nach oben bemerkte ich das Loch in der Hose. Gezittert hatte ich sowieso schon vor Angst wegen den Kindern, nun kamen mir die Tränen und mir wurde erst recht schlecht bei dem Gedanken, was meine Mutter zu der Hose sagen würde.
Sie war sehr sauer. Kannst du nicht aufpassen auf deine Sachen, hatte sie mich angemeckert, schließlich kostet so eine Hose viel Geld. Ich weinte und versuchte zu erklären, das ich über den Zaun klettern musste wegen den Kindern, aber das war uninteressant für sie. Wenn du dich wehren würdest, hättest du das Problem nicht, das ist deine eigene Schuld und in dem Garten hast du nichts zu suchen! Wie oft willst du denn da rüber klettern? Bis der Zaun kaputt gebogen ist? Wer soll das bezahlen?
Ich erwiderte nichts mehr und ließ das Donnerwetter über mich ergehen. Mir war jederzeit bewusst das meine Mutter mir mit diesem Problem nicht helfen würde, ihrer Meinung nach musste ich da selber durch, wenn die Nachbarskinder mich malträtierten, ich sei dafür mit 6/7 Jahren alt genug.
Der Vorteil an dem ständigen Umziehen war definitiv, das ich nach spätestens 7 Monaten woanders wohnte und zur Schule ging und so einigen unliebbaren Kindern entging. Aber Freunde fand ich so natürlich nicht. Ich war eh oft mit im Krankenhaus oder meine Mutter beschloss so, das ich zuhause blieb, ich fehlte viel in der Schule. Meine kleine Welt bestand aus mir selbst, meinen wenigen liebsten Spielzeugen und meiner Fantasie im Kopf, das wars. Ich konnte mich stundenlang mit einem Spielzeug beschäftigen, ohne einen Mucks von mir zu geben, ich brauchte keinen Mitspieler. Irgendwo rumsitzen und Löcher in die Luft starren, das tat ich auch sehr gerne, Tagträume waren meine Welt. Dort war es immer schön, es ging mir gut, ich war nie allein und erlebte tolle Dinge. Ich versuchte bald nicht mehr wirklich ernsthaft Anschluss an Gleichaltrige zu finden, es war zu aufwendig und hielt ja doch nicht lange, denn der nächste Umzug kam bestimmt. Oder wieder eine längere Abwesenheit meinerseits, weil ich mit im Krankenhaus war.
Wenn ich meinen Bruder und meine Mutter ins Krankenhaus begleitete, hatten meine Mutter und ich ein kleines Zimmer im Elternhaus der Uniklinik. Dort verbrachte ich sehr viel Zeit alleine. Auf die Station meines Bruders durfte ich nicht, denn ich war noch keine 12 Jahre alt und das war eine Bedingung, da diese Station besonders schwerkranke Kinder beherbergte. Dadurch, das sie sich aber im Erdgeschoss befand, konnte ich aber über die Terrasse in das Zimmer meines Bruders und das war auch erlaubt. Jedoch saß ich da meistens rum und langweilte mich. Ich sah meinem Bruder beim spielen zu, er hatte einen N64 bekommen, damit ihm nicht so langweilig wurde. Er besaß auch den neuesten Gameboy und eine gute Hand voll Spiele. Ich hatte noch meinen ersten Gameboy, den grauen, mit Tetris, außerdem hatte ich noch Kirby's Dreamland. Tetris spielte ich wirklich gerne, aber jeden Tag, von morgens bis abends? Nein, das war alleine deswegen schon undenkbar, weil meine Mutter mir niemals so viele Batterien für den Gameboy gekauft hätte, sie würden ja ständig leer sein. Aber ich hätte eh nicht so viel und lange spielen wollen. Wenn ich nicht durch die große Uniklinik spazierte und jeden Winkel erkundete, dann war ich draußen unterwegs um die Klinik herum, im Klinikpark, auf der großen Wiese neben dem Elternhaus oder bei dem Helikopter-Landeplatz. Hier lernte ich den Unterschied zwischen Hubschrauber und Helikopter. Darauf war ich sehr stolz, denn es war etwas, was ich für mich selber erkannte. Wenn ich alleine im Elternhaus war, dann spielte ich dort in dem übergroßen Spielzimmer, das fast jede Art von Spielzeug hatte. Eine ganze Spielecke, ein Spielhaus zum reingehen und raufklettern, Puppen mit Puppenhaus, Holzeisenbahn, und und und... Aber meist wurde mir schnell langweilig dadrin, ich war ja alleine, kein anderer war im Haus. Manchmal saß ich dann in dem so genannten Jugendzimmer, dort war ein Keyboard, jede Menge große Sitzsäcke, ein Fernseher mit Recorder und einem N64. Auch Kassetten gab es genug. Ich guckte mich durch alle Filme, ich spielte am Nintendo, testete am Keyboard rum und baute mir einen Turm aus den Sitzsäcken. Irgendwann wurde aber auch das langweilig. Im Vorraum des Elternhauses gab es einen Tischkicker und einen Billiardtisch. Nach nur kurzen Spielrunden mit mir selbst suchte ich mir wieder etwas neues. Es gab kleine Fahrzeuge im Elternhaus, Roller, Dreiräder, kleine Fahrräder. Mit diesen durfte man durch das ganze Haus fahren. Das Elternhaus hatte ein Erdgeschoss und einen ersten Stock, sehr lange Flure und einen Fahrstuhl. Ich fuhr so viele Runden in diesem Haus hin und her, mal mit dem einen, mal mit dem anderen Fahrzeug. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, wann es für mich an der Zeit war rüber zu meinem Bruder und meiner Mutter zu gehen für das Mittagessen. Wenn es draußen trocken und warm war, spielte ich im Garten des Elternhauses. Dort gab es größere Fahrzeuge wie Kettcars, eine tolle Rutsche und einen riesigen Sandkasten. Meist war ich den ganzen Tag irgendwo am rumstromern, alleine, im Kopf am träumen. Selten war mal andere Eltern da, die Betreuer des Elternhauses waren nur an zwei Nachmittagen der Woche zugegen. Irgendwie war ich auch ganz zufrieden damit das ich nie auf Fremde traf, Fremde waren mir nicht geheuer. Einmal jedoch wünschte ich mir, das ganze Haus wäre voll von ihnen. An diesem Tag ging ich, wie an vielen anderen Tagen, unten auf die Kindertoilette. der Türgriff war extra etwas niedriger angebracht und ich fand das toll, schließlich war ich sehr klein für mein Alter. Diesesmal jedoch ließ sich das Drehschloss nicht öffnen. Ich drehte und drehte, aber die Tür blieb verschlossen. Ich fing an zu weinen, ich rüttelte, drückte, drehte hin und her, zog an der Klinke, aber es passierte nichts. Ich bekam große Angst, denn der Raum war in sich geschlossen, es war keine Kabine und es gab kein Fenster. Das Licht leuchtete gelblich-warm, wie im Keller meiner Oma und wie in einem Keller eingesperrt fühlte ich mich auch. Ich wusste ganz genau, das heute kein Betreuer da war, es waren außer meiner Mutter und mir nur zwei andere Zimmer belegt und es war grade früher Nachmittag, meine Mutter würde sich also nicht wundern, wenn ich mich nicht melde, denn das tat ich ja ohnehin nicht. Manchmal war ich zum Abendbrot drüben, manchmal nicht. Ihr meine Lage erst auffallen, wenn sie abends zurück kam und das konnte gut gegen 8 oder 9 Uhr sein. So viele Stunden eingesperrt, das machte mir Angst, ich weinte immer lauter und rief schließlich um Hilfe. Ich polterte und klopfte gegen die Tür, in der Hoffnung das irgendwer im Hause war und mich hört. Der Lüfter in der Toilette war sehr laut, ich bezweifelte das man mich richtig hören konnte. Irgendwann waren meine Hände taub vom Trommeln gegen die Tür. Wie lange ich eingeschlossen war, weiß ich nicht mehr, für mich war es eine Ewigkeit, bis endlich eine Frau auf der anderen Seite der Tür war und mir half. Sie beruhigte mich und wies mich an das Schloss immer wieder in eine Richtung zu drehen. Irgendwann ging diese Tür endlich auf ich war so ängstlich, das ich ihr in die Arme fiel, obwohl sie für mich völlig fremd war, ich hatte sie nie zuvor gesehen und sah sie auch später nie wieder. Sie tröstete mich und ich war so froh wieder die Sonne zu sehen.
Nach diesem Schrecken lag ich fast den ganzen Nachmittag in meinem Bett und weinte, weil die Angst noch in meinem Knochen saß. Und ich war verwirrt, innerlich vom Gefühl aufgewühlt. Diese Frau hatte mich umarmt, mich getröstet und beruhigt, sie schimpfte nicht mit mir. Sie war einfach nur für mich da. Die Erkenntnis, die kam, tat weh. Meine Mutter war nicht so. Obwohl ich in diesem Moment so fertig war, fühlte sich der Moment so angenehm ruhig und sicher an. Wie rosa Sonnenstrahlen dachte ich mir damals. Bei dem Gedanken an meiner Mutter verschwand alles in dunkelgrünen und schwarzen Wolken. Ich würde ihr nicht erzählen was passiert war. Sie würde bestimmt böse sein, das ich solch einen Lärm veranstaltet und die Tür wegen mir ein paar Beulen dank meiner Tritte bekommen hatte. Und schließlich wäre es meine Schuld, meine Dummheit, das all das passiert ist. Auf die Kindertoilette ging ich jedenfalls nie wieder.
Wir waren immer wieder dort, mehrere Wochen, manchmal Monate am Stück. In dieser Zeit hatte ich ein bisschen Unterricht zusammen mit zwei-drei anderen Kindern im Klinikum, sowie mein Bruder. Jedoch war es sehr wenig, vielleicht 5 Stunden die Woche. Wie mein Bruder waren die anderen Kinder Patienten der Station.
In dieser Zeit lernten wir eine andere Patientin und ihre Mutter kennen. Sie war im gleichen Alter wie mein Bruder und die beiden wurden gute Freunde, wann immer sie zeitgleich im Klinikum waren, wollten sie sich zusammen ein Zimmer teilen. Es war für sie entspannender, weil beide die selben Interessen hatten und nicht ständig ein kleines quängelndes Kind neben ihnen im Bett lag, das erst recht keine frische Luft reinlassen wollte. Unsere Mutter und ihre verstanden sich gut. Beide saßen nun abends immer zusammen, sie redeten, rauchten mal eine Zigarette oder sie machten meinem Bruder und dem Mädchen Essen auf Wunsch, das Essen vom Klinikum war nicht prickelnd. Einmal kochten sie griechisch. Da Mutter und Tochter griechische Wurzeln hatten, war die Dame besonders gut darin und mein Bruder liebt griechisches Essen ebenfalls. Sie stellten eine bunte Mischung im Elternhaus zusammen und trugen das Essen, in Schalen gepackt, mit einem lavendelfarbenen Wäschekorb rüber. Sie freuten sich sehr.
Manchmal kam es vor, das ich bei Bekannten bleiben musste. Anfangs war es eine Bekannte meiner Mutter, zu der sie damals mit meinem Bruder und mir von meinem Vater abgehauen war. Ich war nicht sehr gerne dort. Sie und ihr Mann waren starke Raucher, auch im Haus. Die Wohnung war so verdreckt und unordentlich, alles müffelte. Sie hatte Söhne, einige, wie viele weiß ich nicht mehr, aber es waren definitiv mehr als 4. Sie waren alles andere als erzogen, die älteren von ihnen rauchten ebenfalls schon, wobei sie noch keine 15 Jahre alt waren. Ich ekelte mich vor diesem gesamten Haushalt und war so froh, wenn ich vormittags über in der Schule war und nachmittags raus konnte. Selbst bei Nieselregen blieb ich lieber draußen, nur starker Regen jagte mich ins Haus, obwohl ich es als Kind hasste im Regen zu spielen. Meist spielte ich alleine draußen, zu der Zeit gab es viele Baustellen in der unmittelbaren Nähe, ich kletterte auf Hügel rauf, die aus Erde, Schotter oder Steinschutt bestanden. Selten lief mir einer der Jungs über den Weg, sie waren nur draußen, wenn sie mussten.
Als meine Mutter nicht mehr auf sie angewiesen war, kappte sie den Kontakt. Sie hatte nun neue Freunde, die besser waren. Für ein paar Wochen kam ich bei einer Familie unter, die wir in der Mutter-Kind-Kur kennen lernten. Sie hatten eine Tochter im selben Alter und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich so etwas wie eine Freundin. Bei ihnen fühlte ich mich wohl, am liebsten wäre ich bei ihnen geblieben. Die Atmosphäre in dieser Familie war so friedlich, das war mir so unbekannt. Morgens machte der Vater die Schulbrote für seine Tochter und für mich. Das waren drei fremde Dinge für mich. Ich musste immer mein Brot selber schmieren, der Mann meiner Mutter tat nichts im Haushalt und das es auch noch freiwillig, ja sogar gerne gemacht wurde, war suspekt für mich. Auch wenn wir später immer wieder mal zu Besuch da waren, fühlte ich mich sofort wohl. Leider kappte meine Mutter auch diese Freundschaft nach nur wenigen Jahren, obwohl sie nur einen Ort weiter wohnten.
Ein paar Mal war ich in verschiedenen Einrichtungen unter gebracht. Ein hin und her, meine kleine Welt im Gepäck.
Als ich alt genug war um alleine zuhause zu bleiben, blieb ich meist auch zuhaus. So konnte ich zu Schule gehen, den Haushalt machen und meinen kleinen Bruder versorgen, wenn er von der Schule kam. Mein kleiner Bruder, Halbbruder. Sein Vater tat so gut wie nichts im Haushalt, außer Regeln aufstellen.
Meine Welt wurde um Pflichten erweitert. Schließlich bin ich die Große und kann mit anpacken. Essen machen für den kleinen Bruder und mich, Wäsche machen, aufräumen, bei Hausaufgaben helfen. Meine Mutter hatte mir schon früh beigebracht, wie man Wäsche wäscht und aufhängt, zusammen legt, wie man sauber macht und Essen macht. Wirkliches Kochen konnte ich nicht, es waren Fertigsachen die sie mir beibrachte, simple Dinge, die eine Zwölfjährige hinbekommt.
Inzwischen hatte ich zwar eine Freundin, nur hatte ich wenig Zeit für Freundschaften. Vieles zuhause war meine Aufgabe, im Sommer saß ich stundenlang auf der großen langen Hofeinfahrt und zupfte Unkraut. Das was an Freizeit blieb, brauchte ich fast komplett für mich selbst, ich war es so sehr gewohnt, Zeit mit mir selber zu haben, zum nachdenken, träumen, runterfahren.
Erst gab mir meine kleine Welt Freiheiten, dann hielt sie mich gefangen. Ich verlor den Anschluss und fand nur sehr wenig Freunde, für die meisten war ich wie gewohnt Außenseiter und das hab ich irgendwann auch akzeptiert und gelebt.

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